Reiseziel Okinawa: Das etwas andere Japan

TextAlexandra Brechlin

Erst Königreich, dann Kriegsschauplatz und jetzt tropisches Ferienziel: Die Inselgruppe im Süden von Japan verzaubert ihre Besucher zu Land und zu Wasser. Vielleicht mit ein Grund dafür, warum auf den Inseln weltweit die meisten Hundertjährigen leben …

Wer nach Japan reist und zum ersten Mal den Flughafen Naha ansteuert, erblickt von hoch droben tiefgrüne tropische Wälder, kilometerlange Sandstrände und türkisfarbenes Wasser. Wirklich nach Japan sieht das nicht aus. Und so richtig japanisch – das behaupten zumindest die Bewohner der Okinawa-Inseln von sich selbst – sind die Leute hier auch nicht.

Viele sehen sich hier noch als Abkömmlinge des mittelalterlichen Inselkönigreichs Ryukyu. Erst 1871 offiziell in das japanische Reich eingegliedert, entstand hier eine eigenständige Kultur, die aufgrund günstiger Lage und guter Beziehungen zu China, Polynesien und Korea zum Schmelztiegel verschiedenster asiatischer Einflüsse wurde. Es gibt sogar eine ganz eigene Ryukyu-Sprache, die von älteren Einwohnern vereinzelt noch verwendet wird, und selbst das normale Standardjapanisch wird hier in dialektaler Ausprägung mit eigenem Vokabular gesprochen.
Auf vielen europäischen Landkarten sind die 160 Inseln, von denen nur 49 bewohnt sind, nicht einmal eingezeichnet. Für Europäer gelten die Inseln darum noch immer als Geheimtipp und man trifft nur selten auf andere ausländische Besucher. Abgesehen von den US-amerikanischen GIs, die hier seit dem Zweiten Weltkrieg noch knapp 70 Prozent ihrer Militärstützpunkte besitzen, suchen hier vor allem die Japaner selbst nach Entschleunigung.

Mit Erfolg. Hier wird die Tokioter Großstadthektik mit überfüllten Zügen und lauten Shoppingmalls gegen bequeme Shorts und Hawaiihemden eingetauscht.
Ausgestattet mit riesigen Sonnenhüten schlendert man hier langsam die schmalen Straßen zum Strand hinunter, vergräbt seine nackten Füße in den warmen Sand und kann stundenlang ungestört auf das Meer starren.
In den kleinen Fischerdörfern sieht man alte Frauen beim Blumengießen, wie sie mit ihren Nachbarn über den Zaun hinweg plaudern. Und bis spätabends holen kleine Boote ihre Netze ein.
Hier auf Okinawa herrscht durchgehend Erntezeit. Der Himmel ist türkisfarben, das Meerwasser körperwarm und so etwas wie Kälte und Winter gibt es hier nicht. Alles erinnert ein bisschen an Hawaii, nur eben auf Japanisch.
Hier geht es nicht so laut und wild zu wie in den beliebten tropischen Urlaubshochburgen, es ist alles sauberer, geordneter – und einfach entspannend.

Morgen ist auch noch ein Tag

Dieses entspannte Leben mitten im Nirgendwo hat sich in den vergangenen Jahren zu einem Dorado für die Altersforschung entwickelt. Denn auf die etwa 1,4 Millionen Einwohner in Okinawa kommen über 900 Menschen, die hundert Jahre und älter sind.
Damit gilt die japanische Präfektur weltweit als der Ort mit der höchsten Lebenserwartung.
Ein altes Sprichwort auf den Ryukyu-
Inseln lautet: „Mit 70 bist du ein Kind, mit 80 ein Jugendlicher und mit 90, wenn dich deine Ahnen in den Himmel rufen, bitte sie zu warten, bis du 100 bist.“
Und tatsächlich: Anstatt ins Altersheim zu gehen und auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein, leben die meisten älteren Leute hier lieber für sich. Bis ins hohe Alter gehen sie alleine einkaufen oder gehen freiwillig einer Arbeit nach.
Das Geheimnis der Langlebigkeit vermuten viele Forscher in der ausgeglichenen Lebensweise in Harmonie mit der Natur und der einzigartigen Küche auf Okinawa. Sie ist in ganz Japan berühmt und für viele Urlauber die Hauptattraktion, noch vor den kilometerlangen Sandstränden und den tropischen Temperaturen. In einer Kultur, in der Essen und Trinken ohnehin mit der größtmöglichen Hingabe zelebriert und Speisen so kunstvoll angerichtet werden wie sonst nirgendwo, ist das natürlich der ultimative Ritterschlag.
Ein besonders beliebtes Mitbringsel für daheim ist bei den Japanern der sogenannte Awamori. Das ist ein spezieller Reisschnaps, der so nur auf Okinawa destilliert wird. Er besteht aus langkörnigem Indica-Reis aus Thailand und ist besonders kalorienarm, ganz ohne Zusätze von Zucker. Gut gealtert hat er einen ganz eigenen würzigen Geschmack und wird gerne als „Mizuwari“ – das bedeutet: gemischt mit Wasser und Eis – getrunken.
Übrigens: Auf Okinawa sieht man des Öfteren auch die älteren Leute bei dem ein oder anderen Glas Awamori sitzen. Mit einem Alkoholgehalt von bis zu 40 Prozent ist das zwar alles andere als leichte Kost, aber darüber wird hier nur gelacht. Morgen, so sagt man hier gerne, ist schließlich auch noch ein Tag.

Kulturmix

Das Besondere an der Küche in Okinawa ist ihre Vielfältigkeit. Denn während sich das mittelalterliche Japan über Jahrhunderte hinweg von der Außenwelt abschottete, um sich vor Kolonialisierung und westlichen Einflüssen zu schützen, gab es in Okinawa immer wieder Zuwanderungen aus Südostasien und nach dem Zweiten Weltkrieg auch aus den USA.
Diese fremden Einflüsse veränderten nach und nach die Ernährungsgewohnheiten auf den Inseln, sodass heute viele Gerichte stark von der restlichen Ernährung im Land abweichen.
So greift man hier im Gegensatz zu Fisch noch viel lieber zu den unterschiedlichsten Meeresalgen und Seegräsern, Statistiken zufolge bis zu fünfmal mehr als im restlichen Land.
Und während die traditionelle japanische Küche so gut wie ohne Fleisch auskommt, lieben die Leute auf Okinawa ihr Schweinefleisch. Dieses wurde einst aus China eingeführt und wird hier durch besonders langes Kochen so sorgfältig von jedem Fett befreit, dass nur noch der reine Fleischgeschmack übrig bleibt.
Übrigens: Japans Nationalgericht Sushi wird in Okinawa gerne auch mal gekocht oder nach koreanischer Art gebraten oder zusammen mit mexikanisch angehauchten Tacos serviert.
Am liebsten gewürzt wird mit Chili, ganz viel Kurkuma und Ingwer. Salz hingegen findet man nur selten, Brot und Milchprodukte sucht man vergebens.
Sogar Speiseeis besteht hier aus Gemüse, und zwar chinesischen Süßkartoffeln.
Sehr beliebt sind auch regionale Obst- und Gemüsesorten. Allen voran eine kleine grüne Zitrusfrucht, die Hirami Lemon, die man auf Okinawa Shikuwasa nennt. Man findet sie überall auf den Inseln verteilt und auch wenn ihr Fruchtfleisch nicht genießbar ist, wird ihr angenehm duftender Saft gerne zum Würzen verwendet.
Das absolute Nationalgemüse Okinawas ist die Goya. Diese ziemlich hässlich aussehende Bittergurke kennt man auch aus anderen asiatischen Ländern, aber hier kommt tatsächlich fast kein Gericht ohne sie aus. Angeblich zählt die Gurke zu einer der vitaminreichsten Gemüsesorten weltweit und greift sogar positiv in den Fettstoffwechsel von Organismen ein. Auch im „Champuru“, der Hausmannskost der Inselbewohner, findet man sie zuhauf. Neben Gemüse und Tofu brät man hier auch sehr gerne Karotten, Rettich oder Spinat kurz an und vermischt alles miteinander. Der Name des Gerichtes stammt angeblich von dem malaysischen Wort „campur“, was so viel wie „mischen“ bedeutet, weil hier die verschiedensten pazifischen und südostasiatischen Gemüsesorten zusammenkommen.

Weniger ist mehr

Noch wichtiger als gutes Essen ist den Menschen auf Okinawa jedoch – und das ist, allen Fremdeinflüssen zum Trotz, eine sehr japanische Eigenschaft – der Verzicht.
„Weniger“ wird in der japanischen Kultur immer als „mehr“ angesehen. Ein Gedankengut, das nicht nur in der reduzierten Wohnungseinrichtung zum Ausdruck kommt, sondern sich auch auf die Esskultur ausgewirkt hat.
Das bekannteste Sprichwort dazu stammt aus Okinawa: „Hara hachi bu“ bedeutet so viel wie „Fülle deinen Magen immer nur zu 80 Prozent“. Sich so vollzustopfen, dass man sich danach nicht bewegen kann oder sogar müde wird, ist in Japan verpönt. Selbst in der größten tropischen Hitze Okinawas gilt regelmäßige Bewegung als unerlässlich für einen gesunden Körper und Geist. Unter anderem wurde in dem einstigen Königreich Ryukyu die Kampfsportart Karate erfunden, um sich auch ohne schwere Waffen gegen einfallende Samurai zu verteidigen.

Wilde Natur
Wer seinen Urlaub nicht die ganze Zeit am Strand oder in Restaurants und Bars verbringen möchte, sollte unbedingt einen Abstecher in das Innere der Inseln wagen. Viele von ihnen sind noch immer mit einem sehr ursprünglichen Urwald bedeckt, der komplett unberührt ist von menschlichen Einflüssen. Hier leben viele seltene Tier- und Pflanzenarten, darunter die vom Aussterben bedrohte Iriomote- Wildkatze. An nicht ganz so heißen Tagen können Ausflüge und Wanderungen hier zu einem besonderen Erlebnis werden. Mit ein bisschen Glück findet man im Dschungel sogar eine der vielen Tropfsteinhöhlen. Das Gangala-Tal in der Nähe der Stadt Nanjo entstand vor mehreren Hunderttausend Jahren aus einer solchen Höhle. Heute kann man hier riesige Stalaktiten bewundern, während man unter Banyanbäumen an alten Ruinen vorbeispaziert.
Fast immer werden für solche Ausflüge Führungen angeboten und auch wenn die meisten Touren nach wie vor auf Japanisch sind, gibt es insbesondere in der Hauptstadt Naha auch viele Führungen auf Englisch, Chinesisch oder Koreanisch. Empfehlenswert sind natürlich auch Ausflüge in die für tropische und subtropische Regionen typischen Mangrovenwälder. Die Bäume wachsen im Brackwasser, also dort, wo Meer und Flusswasser zusammenlaufen.
Den Fluss Nakama auf der Insel Iriomote säumt Japans größten Mangrovenwald, er wurde vor wenigen Jahren zum nationalen Naturdenkmal erklärt. Hier werden regelmäßig Touren mit Aussichtsbooten angeboten und Besucher können so den größten Mangrovenbaum Japans und den seltenen Mangrovenapfel bestaunen. Wer dann noch die Hand neben die Wurzeln einer schwarzen Mangrove ins Wasser hält, kann schnell viele kleine Babygarnelen bestaunen, die sich frech um einen herum versammeln.

Wellness auf japanisch

Ebenfalls ein Stück Natur, wenn auch ganz anderer Art, sind die berühmten heißen Quellen, in Japan „Onsen“ genannt.
Aus den Tiefen des Vulkangesteins wird hier heißes Wasser nach oben gespült, das wegen seines hohen Mineraliengehalts als besonders gesund gilt.
In Japan ist man davon überzeugt, dass sich mit einem Bad in diesem Wasser Hauterkrankungen und viele andere Gesundheitsprobleme lindern oder beheben lassen. Schon im Mittelalter war das japanische Bad mehr als nur Reinigung: Es diente dem geselligen Beisammensein, während Körper und Geist entspannten. Noch heute schließen japanische Geschäftsmänner wichtige Verträge beim gemeinsamen Baden ab. Kein Wunder, dass viele Touristen-Resorts extra um eine der heißen Quellen herum gebaut wurden, damit der Aufenthalt zu einem Rundum-Erholungspaket wird.

Fotos © getty images